Künstlerisch gestaltete internationale Biografie-Koffer

Vor einigen Jahren habe ich eine Weiterbildung rund um das Thema „Menschen mit Demenz und Migrationshindergrund“ besucht. Dabei wurde uns ganz unverblümt erklärt, dass „deutsches“ Demenz-Assessement bei Menschen mit einem Migrationshintergrund nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Diagnosestellung funktioniert!

Beispielsweise soll das Alphabet rückwärts aufgesagt werden oder innerhalb von zwei Minuten so viele Gegenstände wie möglich genannt werden, die in einem Supermarkt eingekauft werden können. Für Menschen, die mit einem griechischen oder kyrillischen Alphabet aufgewachsen sind oder die selten bis gar nicht einkaufen gehen, schon gar nicht in einem deutschen Supermarkt, sind die Fragen wirklich nicht geeignet. Ich hoffe, dass sich zwischenzeitlich entsprechende niedrigschwellige und evidienzbasierte Diagnoseverfahren in der Praxis etabliert haben.

Seit Beginn meiner Selbständigkeit im Juni 2022 hat sich nun im Rahmen meiner zugehenden Autoren-Besuche die Biographie-Arbeit mit Senioren zu dem bisher erlebnisreichsten und schönsten Arbeitsbereich entwickelt. Dabei treffe und arbeite ich immer wieder mit Menschen mit teilweise weit fortgeschrittener Demenz.

Biographie-Handwerkszeug

Währenddessen habe ich schnell bemerkt, dass es neben dem pflegefachlichen Know-How spezielles Handwerkszeug benötigt, um meine verbalen Fragen zu verdeutlichen. Visuelle und haptische Reize unterstützen abstrakte Gesprächsinhalte bzw. verdeutlichen diese, wenn es Sprachverständnisstörungen gibt. Diese können aufgrund der Demenz oder wegen eingeschränkter Sprachkenntnisse vorhanden sein. Außerdem soll der Besuch kein Biographie-Verhör werden. Deshalb werden beim gemeinsamen spielen, Bilder und Rezepte ansehen oder anderen bekannten und beliebten Beschäftigungen die Erinnerungen ganz von alleine wieder wach.

Zeitgleich auf meiner Suche nach entsprechendem außergewöhnlichen und individuellen Biografie-Handwerkszeug bin ich von der Künstlerin Fia Biba auf dem SocialMedia-Portal LinkedIn angeschrieben worden. Was für ein Glück!

Andere Länder, andere Sitten

Sie hat in den vergangenen Jahren länderspezifische Biografie- bzw. Methodenkoffer entwickelt. Der Entwicklung ging der Gedanke voraus, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen auf deren entsprechende Musik, traditionelle Rezepte, Alltagsgegenstände und Erzählungen selbstverständlich ganz anders reagieren als die Deutschen auf Bratkartoffeln und Heintje.

Auf ihrer Homepage www.happy-amydala.de beschreibt Fia Biba die Anfänge der Malvorlagen, die Teil des Methodenkoffers sind. Zunächst sollte sie als Künstlerin und Kreativtherapeutin im Auftrag eines Trägers einen Malkurs für Menschen mit Demenz leiten.

„Ich hatte alles dabei für das freie Malen und für den Fall, dass dies nicht klappen würde, hatte ich mir Malvorlagen für Senioren und Menschen mit Demenz besorgt. Also, easy war das nun wirklich nicht. Das freie Malen überforderte die anwesenden TeilnehmerInnen und mit den Malvorlagen war das auch nicht so einfach. Sie fanden sich nicht wieder in den Motiven.

Für die nächste Malstunde musste ich mir was einfallen lassen. Online suchte ich nach einer anderen Art von Malvorlagen, kultursensibel. Nichts gefunden.

Dann musste ich wohl selber ran und so begann meine Suche nach Motiven, welche für die türkischen TeilnehmerInnen in meinem Kurs ansprechend sein könnten. Ich zeichnete alte Teppich- und Stoffmuster nach, Alltagsgegenstände und Situationen. Nicht zu kleine Flächen, die Linien etwas dicker. Die selbstgezeichneten Vorlagen waren ein Erfolg!“

Spezielle Vorlagen für Menschen mit Demenz

Ähnlich wie in den Kurz- und Alltagsgeschichten, die während der Gruppenbeschäftigung vorgelesen werden, sind auch die Malvorlagen, die sich am früheren Alltag oder an bekannten Alltagsgegenständen orientieren für Menschen mit Demenz gut geeignet.

Natürlich ist das Malen nicht jedermanns Sache und deshalb ist so ein Biografie-bzw. Methodenkoffer auch mit weiteren Inhalten bestückt. Wer von sich erzählt, kommt früher oder später auf das Thema Heimat.

Auf einer Karte kann der Geburtsort oder ein früherer Wohnort gezeigt werden. Gab es dort einen Fluss oder war der Ort sogar am Meer? Wurde dort etwas angebaut oder gab es Sehenswürdigkeiten? Was hat diese Region ausgemacht?

Eine weitere schöne Idee aus dem Koffer ist das Koch-Magnetspiel. Dabei können die Zutaten entweder in den Ofen, in die Pfanne, in die Schüssel oder auf den Herd platziert werden.

Das Rad muss nicht neu erfunden werden

Im Gespräch mit Frau Biba war mir schnell klar, was für einen Mehrwert so eine Sammlung von unterschiedlichen Alltags-Spielen in der Biografie- und Beschäftigungsarbeit bringen kann. Während sie sehr zeitintensiv die Entwicklung und Umsetzung der Biografie- bzw. Demenzkoffer vorangetrieben hat, können wir vom fertigen Produkt profitieren.

„Denn ich verbinde mit meinem Methodenkoffer:

Kreativität + Senioren + Demenz + Migrationshintergrund.

Zwölf kultursensible, kreative Beschäftigungen, die auf einander aufbauen, sich aber auch unter einander verbinden und mixen lassen. (…) Sinnesaktivierung neu gedacht.“

Im praktischen Einsatz müssen dann natürlich die verantwortlichen Beschäftigten auf entsprechende Vorsicht achten. Die Frage, ob teilnehmende Menschen dazu neigen Gegenstände in den Mund zu nehmen und deshalb eine Aspirationsgefahr besteht, sollte daher immer geklärt werden.

Aktueller Stand der Biografie-Koffer

Derzeit gibt es insgesamt sechs Länderkoffer: der deutsche und italienische Koffer wurden 2022 fertiggestellt. Zuvor gab es bereits Koffer für folgende Länder: Türkei, ehem. UdSSR, ehem. Jugoslawien und Polen/Tschechien. Einzelne Komponenten wie das Briefmarken-Magnetspiel oder Malvorlagen sind unabhängig von den Koffern in unterschiedlichen Länderkombinationen erhältlich.

„Dieses Spiel ist eher ein Männerspiel und erinnert an ein altes Hobby. Legen Sie die Magnet-Buchplatte auf den Tisch, und lassen Sie den Teilnehmer die Briefmarken einsortieren wie er möchte.“ (Info zum Briefmarken-Magnetspiel)

Weitere Länderkoffer sind geplant. Derzeit werden die Koffer in kleinen Auflagen erstellt und Fia Biba achtet sehr auf die Qualität der verwendeten Materialien. In einer Massenproduktion oder unter stark wirtschaftlich geprägten Zielen wäre das nicht mehr möglich.

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